Claudio und Marcel sind zwei der vier Bewohner der Rollstuhlfahrer-WG am Wallbaumweg in Bochum-Langendreer. Gemeinsam bilden sie sich aktuell am Comcave College weiter, um ihre Chancen am ersten Arbeitsmarkt zu verbessern. Freizeitvorlieben sind sehr verschieden.
Entspannte Runde mit Reggae und Shisha
Durch den Wallbaumweg 101 schallt das Credo des Freitagabends: „We’re jammin‘ – and I hope you like jammin‘, too.“ Claudio (24) und seine Freunde genießen den Start ins Wochenende. Bob Marley ist nicht nur mit seinem Gesicht auf einer jamaikanischen Flagge dabei; mit The Wailers bahnt er sich auch den Weg durch die Boxen. Die zehn jungen Erwachsenen wechseln sich derweil an der Playstation ab, lassen die dampfenden Schläuche der Wasserpfeifen kreisen und leeren auch das ein oder andere Glas.
„Echte Liebe“
Während sich Claudios Runde entspannt vergnügt, steht das Zimmer von WG-Nachbar Marcel (26) leer. In „etwas größerer Gesellschaft“ treibt er gerade zusammen mit seiner Mutter und 80.198 anderen Fans in Dortmunds Fußballtempel seine „echte Liebe“ Borussia zum Erfolg. Endlich wieder einmal hat der Dauerkarteninhaber Grund zur Freude: Der BVB besiegt den FSV Mainz vor heimischer Kulisse mit 4:2 und veredelt damit nicht nur Marcels Wochenausklang: „Ich bin seit 2004 bei fast jedem Heimspiel, nehme auch mal Kollegen oder meinen Großvater mit, der als langjähriger Schiedsrichter genauso fußballbegeistert ist.“
Gemeinsame Ausbildung
Kennengelernt haben er und Claudio sich im Berufsbildungswerk Volmarstein, wo die beiden Rollstuhlfahrer wie viele andere körperlich behinderte Jugendliche ihre beruflichen Erstausbildungen (Bürokaufmann) erlangten. Auch Claudios Reggae-Leidenschaft geht auf die Zeit im zugehörigen Internat zurück: „Azubi-Kollegen haben mich auf den Geschmack gebracht“.
Unterschiedliche Interessen
Marcel kann eher weniger mit den musikalischen Vorlieben seines WG-Kumpanen anfangen: „Das ist nicht so mein Fall. Es gibt zwar ein paar ordentliche Lieder, aber die macht er meist sofort weiter“, beschwert er sich augenzwinkernd. Auch beim Fußball gehen die Neigungen auseinander. Dominiert bei Marcel fraglos schwarz-gelb, deutet eine AC Mailand Fahne in Claudios Zimmer auf seine Herkunft hin: „Ich bin in Deutschland aufgewachsen, mein Vater ist jedoch Sizilianer. Die Bundesliga interessiert mich eigentlich weniger, aber Dortmund ist schon ok“, sagt er mit einem beschwichtigenden Grinsen in Richtung Marcel.
Selbstbestimmtes Wohnen
Es ist keine Frage, dass in der WG vier Individuen wohnen, die alle eine eigene Vorstellung vom idealen Tagesablauf haben. Dennoch war schnell klar, dass sie nach ihrer Ausbildung in einer gemeinsamen WG speziell für Rollstuhlfahrer selbstbestimmt leben möchten. Die nötige Freifläche war gefunden, als die SAB.Ruhr 2012 von Witten nach Bochum-Langendreer zog. Auf 200 qm errichtete man zwei behindertengerechte und barrierefreie Wohnungen. Seit August 2014 ist die Wohngemeinschaft voll besetzt. Meinungsverschiedenheiten sind da vorprogrammiert: „Klar fliegen hier schon mal die Fetzen, aber danach ist schnell wieder alles in Ordnung“, schildern die beiden den Alltag.
Berufliche Weiterbildung erfolgreich gestartet
Unter der Woche verlaufen ihre Leben seit dem 20. Januar wieder synchron: „Wir nehmen an einer Weiterbildungsmaßnahme des Jobcenters Bochum teil, um unsere kaufmännischen Kenntnisse aufzufrischen und zu erweitern“, berichtet Claudio. Marcel fügt an: „Das Ganze ist eine Art ‚Crash-Kurs‘ und in vier Module unterteilt, z.B. Büro-Organisation oder Wirtschaftsenglisch. Wir haben uns selbst um die Maßnahme bemüht, die Kosten werden übernommen.“
Den ersten Arbeitsmarkt fest im Blick
Noch bis zum 22. Juli machen sich die beiden gemeinsam mit einem persönlichen Assistenten der SAB.Ruhr in Claudios Opel zum Bochumer Comcave College im City-Point auf. Das Ziel der Maßnahme ist klar: Die ausgebildeten Bürokaufmänner möchten sich endlich auf dem ersten Arbeitsmarkt beweisen. „Es ist leider nicht unbedingt hilfreich bei der Jobfindung, dass Rollstuhlfahrern viele Sonderrechte eingeräumt werden. Diese sind zwar zum Teil sehr wichtig und notwendig, aber wir können auch verstehen, dass manche Arbeitgeber in erster Linie den zusätzlichen Aufwand sehen und unsere Fähigkeiten gar nicht beurteilen“, bilanzieren die beiden. Entmutigen lassen möchten sie sich nicht: „Die erste Prüfung ist schon bestanden. Wir hoffen, dass wir danach besser mit unseren Bewerbungen punkten können“, so Marcel. Freizeit sei natürlich schön, aber nur, wenn es auch beruflich vorwärts geht.
Gemeinsame Aktivitäten mit der WG
Ausflüge und Unternehmungen mit der gesamten WG stehen auch immer mal wieder auf dem Programm, erzählt Marcel: „Wir waren zusammen in Hamburg und Berlin, 2014 auf dem ‚Holi Festival of Colours‘ in Dortmund. Da geht es in diesem Jahr auf jeden Fall wieder hin.“ Claudio ergänzt lachend: „Mein Assistententeam freut sich schon. Die mussten mich nach dem letzten Mal ordentlich schrubben. Jede Stunde werfen die Festivalbesucher Farbbeutel in die Luft. Nach dreimal duschen ist man immer noch bunt.“
Träume: Reisefieber und Vierbeiner
Ein anderes Ziel wird auf Anhieb in Marcels Zimmer deutlich. Große Bilder vom Times Square und der Golden Gate Bridge stehen stellvertretend für Fernweh und Reiselust: „Ich glaube New York ist einfach genau meine Stadt und hoffe, eines Tages dort hin zu kommen. Oder einmal die Route 66 entlang zu fahren – genau das wäre es.“
Claudio wurde ein großer Traum bereits von einer Freundin erfüllt und die WG so um einen fünften Mitbewohner bereichert: „Vor einem dreiviertel Jahr hat sie mich mit Amico überrascht, nachdem ich ihr wochenlang mit meinem Wunsch nach einem Hund in den Ohren lag.“ Der zweijährige Rüde ist seitdem immer in der Nähe. Ob es eine Geste der Dankbarkeit ist, dass Amico ein ungarisches Tierheim gegen den Wallbaumweg eintauschen durfte, sei dahingestellt: „Auf jeden Fall bewacht er uns alle hier und hat Spaß an jedem Ballwurf“, freuen sich Claudio und die anderen gemeinsam über die zusätzliche Gesellschaft.
Die persönliche Assistenz in der WG
Die Wohngemeinschaft ist komplett selbstbestimmt und frei. Es sind eben vier ganz normale Mieter mit unterschiedlichem Assistenzbedarf, die ihren eigenen Interessen und Aufgaben nachgehen oder zusammen etwas unternehmen. Um dies zu gewährleisten, ist auch die Assistenz flexibel gestaltet. Durch den individuellen Bedarf aller ergeben sich zudem hilfreiche Synergieeffekte. In den Nächten ist jeweils durchgehend ein/e Assistent/in vor Ort, um bei Bedarf sofort unterstützen zu können.