„Ich hatte immer Glück!“

collage_jochen-stelzer_1Gegen alle Widrigkeiten
Jochen Stelzer trotzt Behinderung und Bettlägerigkeit. Erfülltes Leben in der eigenen Wohnung und 24-Stunden-Betreeung der SAB.Ruhr als Basis seiner Errungenschaften.
„Ich war es mein ganzes Leben lang gewohnt, alles selbstständig zu regeln, das Beste herauszuholen und immer nach Neuem zu suchen.“ Jochen Stelzer flüchtet sich nicht in leere Worthülsen, wenn er einen kurzen Rückblick auf 64 Jahre wirft.

Selbstbestimmtes Leben Dank Assistenz.
Seine aktuelle Situation weiß Stelzer äußerst realistisch einzuordnen: „Jemand, der mich zum ersten Mal sieht, ist vielleicht kurz geschockt. Ich bin bettlägerig, habe einen Beatmungsschlauch im Hals und benötige selbst beim Kratzen an der Nase Hilfe. Aber mich hat das nicht umgeworfen und ich möchte auch nicht herum jammern.“ Denn eines hat er sich trotz aller Handicaps und Schicksalsschläge bewahrt: „Seit 1985 wohne ich im Erdgeschoss meiner Marler Wohnung. Nachdem es zur Bettlägerigkeit kam, hat mir die SAB sehr bei der Organisation einer 24-Stunden-Betreuung geholfen, ohne die ich nicht mehr Zuhause leben könnte. Ein Umzug in ein Wohnheim wäre für mich der Anfang vom Ende gewesen und ich wüsste nicht, wie es dann um mein Seelenheil bestellt wäre“, schildert Stelzer ohne Umschweife.

Diagnose: Progressive Muskeldystrophie
Schon früh nahm sein Leben unwegsame Pfade. Als Stelzer ca. acht Jahre alt war, wurde bei ihm progressive Muskeldystrophie (fortschreitender Muskelschwund) diagnostiziert. „Da konnte ich noch laufen. Mit 13, 14 Jahren wurde Treppensteigen und Fahrradfahren unmöglich, ab meinem 17. Lebensjahr war ich schließlich auf einen Rollstuhl angewiesen.“ Was ihm körperlich mehr und mehr fehlte, glich Stelzer mit seinem unermüdlichen Willen aus: „Anfang 20 war ich sehr breit aufgestellt und in viele gesellschaftspolitische Aktivitäten involviert. Ich habe mich bei den Jungsozialisten und der Volkshochschule engagiert, Selbsthilfegruppen für Behinderte gegründet und bin so über die Jahre immer mehr in die politische Arbeit herein gerutscht.“

Seit 2002 Betreuung durch SAB.Ruhr.
Auch aus dem Elternhaus verabschiedete sich der spätere Stadtrat (Marl) und stellvertretende Fraktionsvorsitzende (SPD, bis 2004) auf eigenen Wunsch: „Es hatte zwar viele Vorteile für mich, war aber eine Belastung für meine Familie.“ Bis 2002 bewältigte er den Alltag zusammen mit Zivildienstleistenden, blickte sich dann nach Alternativen um: „Ich hatte Kontakt zur SAB aufgenommen und mich schnell für die sinnvollste Lösung, das „Assistenz-Modell“, entschieden. Bis 2006 habe ich mein Leben so geführt, stand mit allen vier Rädern fest im Leben.“

Bettlägerig, nicht untätig
Vor zehn Jahren, der Muskelschwund hatte bereits signifikante körperliche Verschlechterungen bedingt – Umdrehen im Bett nicht mehr möglich, Lungenvolumen verkleinert, Herz- und auch Kiefermuskeln betroffen – kämpfte Stelzer zudem mit einer schweren Diverkulitis (Dickdarmentzündung): „Mehrere OPs und eine Lungenentzündung haben mich derart geschwächt, dass ich nicht mehr den Rollstuhl nutzen kann. Aufgrund eines Luftröhrenschnittes werde ich zudem dauerhaft beatmet und bin bettlägerig.“

Sozial bestens vernetzt
Doch auch der komplette Mobilitätsverlust brachte Stelzer nicht von seinem Weg ab: „Zusammen mit einem Arzt wurde mein SAB-Betreuerteam eingearbeitet. Seitdem läuft es ganz vorzüglich und ich fühle mich sehr gut. Denn durch diese Regelung kann ich weiterhin mein eigenes Leben führen.“ Da er eine offene Wohnung pflegt, „kommt ständig Besuch vorbei. Das Internet ist wiederum meine Nabelschnur nach draußen.“ Musste er zwar sein politisches und ehrenamtliches Engagement vor Ort beenden, fand Stelzer schnell neue Aufgaben. „Ich wurde immer wieder nach meiner Geschichte und weiteren Infos gefragt. Also habe ich angefangen, meine Biografie zu schreiben.“

Eigene Biografie „Mut zum Ich“
Welch „buntes und vielseitiges Leben“ hinter ihm liegt, beschreibt das 440-Seiten starke Buch „Mut zum Ich“ (2011, Pro BUSINESS Verlag) vom und über den selbsternannten „rettungslosen Optimisten“ und „sprechenden Kopf“ deutlich. „Ich bleibe positiv, lebensfroh und genieße weiterhin gerne. Das trägt und leitet mich. Meine Beeinträchtigungen sind kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Basis dieser Einstellung ist meine eigene Wohnung und die Sicherstellung aller Hilfen, inkl. meiner Beatmung, durch mein Assistenzteam.

„Ich hatte immer viel Glück“
Blickt ein Außenstehender auf die Diagnose „Muskelschwund“ und seine andauernde Bettlägerigkeit ohne Aussicht auf Besserung, dann könnte Stelzers nächster Satz durchaus verwundern: „Ich hatte immer viel Glück.“ Trotz oder gerade durch die Widrigkeiten, mit denen er sich herumschlagen muss, habe er immer die richtigen Leute zum richtigen Zeitpunkt kennengelernt: „Ich bin immer wieder erstaunt, was sich aus solch kleinen Gegebenheiten entwickeln kann.“ Lange war er als „Nikolaus im Rollstuhl“ unterwegs, wurde mehrfach ins ZDF eingeladen, traf in der Livesendung „Wohin steuert die Gesellschaft diesen Staat?“ 1981 auf den damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens und „löffelte zum Ausklang des Abends Suppe mit dem Präsidentensilber“.

Dem Nachwuchs helfen.
„Größere Ziele“ könne er heutzutage nicht mehr angehen: „Es sind zu viele Faktoren, die ich nicht mehr einkalkulieren kann. Aber es gibt immer noch viele kleinere Dinge, zu denen ich von Zuhause aus etwas beitragen kann. Meine Großneffen und –nichten sollen sehen, dass das Leben sehr bunt und vielfältig ist und man auch mit einem Handicap leben kann.“ Damit hätte er in seiner jetzigen Lebensphase noch einmal ganz viel erreicht, sagt Stelzer. „Auch Politisches, z.B. die Flüchtlingsintegration oder die Überarbeitung des Marler Stadtkerns möchte ich ein Stück weit begleiten. Und vielleicht schreibe ich noch einmal etwas. Ideen für einen anspruchsvolleren Science-Fiction Roman geistern mir seit vielen Jahren durch den Kopf.“

„Ich habe ein erfülltes Leben geführt“
So oder so kann Stelzer, Politiker, Autor, ehrenamtlich Engagierter, Selbsthilfe-Gruppen-Leiter, ehemaliger Vorsitzender der kath. Kirchengemeinde – die Liste könnte noch bedeutsam länger werden –, mit Fug und Recht behaupten: „Ich habe bislang ein erfülltes Leben geführt.“ Mit Blick auf seine eigene Bekanntheit fügt er süffisant an: „Klar, ich stehe schon gern mal im Rampenlicht, aber habe immer versucht, mich für andere zu engagieren.“
Hans-Joachim Stelzer berichtet auch auf seiner Homepage ausführlich über seinen Werdegang, seine Behinderung, Errungenschaften und das SAB.Ruhr Assistenzmodell, welches ihm im Rahmen seiner Bettlägerigkeit weiterhin ein selbstbestimmtes Leben in der eigenen Wohnung ermöglicht.

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