Victoria Michel (21) plant Auslandssemester in Schweden. Ihr SAB.Ruhr-Betreuerteam nimmt sie dafür kurzerhand mit. Immer zwei Assistenten vor Ort.
Studentin Victoria Michel zieht’s nach Schweden, genauer Göteborg. Im Gepäck: Ihr komplettes SAB.Ruhr-Assistenz-Team. Ein Gendefekt hemmt zwar Muskelkraft- und -wachstum, nicht aber ihren Drang nach neuen Eindrücken und Erfahrungen:
Vor zweieinhalb Jahren tauschte die 21-Jährige das beschauliche Gummersbach mit ihrer neuen Heimat Bochum: „Hier sind die Möglichkeiten einfach besser, wenn man studieren möchte. Im Vergleich zu anderen Unis ist außerdem die Barrierefreiheit relativ gut.“ Gerade einmal drei Minuten benötigt sie, um von ihrem behindertengerechten Apartment am Sumperkamp mit dem elektrischen Rollstuhl den Campus der RUB zu erreichen.
Novum in der Betreuung
Die Idee, kurz vor Ende ihres Bachelor-Studiengangs etwas Neues im Ausland auszuprobieren, bezeichnet Michel schlicht als „verrückt“: „Ich habe meiner Assistentin erzählt, dass ich gerne meinen Master in Schweden machen würde. Sie hat mir geraten, es erstmal mit einem Auslandssemester zu versuchen. Den Gedanken fand ich anfangs allerdings problematisch.“
Michel war sich nicht sicher, ob es möglich wäre, ein komplett neues Betreuungsteam für ein halbes Jahr aufzubauen: „Schließlich dauert es immer eine gewisse Zeit, bis man eingespielt ist.“ Die Lösung war denkbar einfach: „Ich nehme mein funktionierendes Team einfach mit“, erzählt sie lachend und sorgt damit gleichzeitig für ein Novum: Noch nie brach ein Kunde der SAB.Ruhr zu einem halbjährigen Auslandsaufenthalt zusammen mit seinen Assistenten auf.
Zehnköpfiges Team abwechselnd in Göteborg
Nicht nur die Studentin der Medienwissenschaften freut sich, auch ihre Beutreuer/innen sind natürlich gespannt auf den etwas anderen Arbeitsort: „Wir sind genauso aufgeregt“, schildert SAB-Mitarbeiterin Angela Hirte (26) stellvertretend die Stimmung im zehnköpfigen Team.
Über das Erasmus-Programm beantragte Michel Zuschüsse für „behinderungsbedingte Mehrkosten. Ich brauche z.B. eine größere Wohnung. Zudem werden darüber die Flugkosten für meine Assistenten gedeckt.“ Zwei Betreuer werden gleichzeitig, jeweils für zwei Wochen vor Ort sein, im 24-Stunden-Dienst arbeiten: „Das haben wir gemeinsam beschlossen“, erklärt Michel. Hirte ergänzt: „In Schweden ist so einfacher. Wir haben komplett freie Tage und übernehmen alle die gleiche Schicht.“ In Deutschland ist ein Arbeitstag meist in zweimal zwölf Stunden gegliedert.
Der große Vorteil: Das zehnköpfige Betreuungsteam kommt untereinander sehr gut zurecht: „Wir nehmen Rücksicht auf alle und gestalten die Dienstpläne entsprechend“, beschreibt. Zudem betreuen die Assistenten in der Regel nur einen, maximal zwei Kunden, sind dadurch flexibler und besser abgestimmt. „Wie es in Schweden wird, wenn wir ununterbrochen aufeinander hocken, schauen wir mal“, wirft Michel mit einem ironischen Blick zu ihrer Assistentin ein. „Mir ist es egal, ich bin es ja gewöhnt, dass jemand 24 Stunden bei mir herumhängt. Aber wenn man das nicht kennt, kann ich mir vorstellen, dass es auch mal interessant werden könnte“, amüsiert sie sich im Vorfeld.
Offener Umgang mit der eigenen Beeinträchtigung
Dieser offene Umgang, auch mit ihrer eigenen Beeinträchtigung, macht Michels lebhafte Art aus. Auf eine Sonderbehandlung verzichtet sie gerne. Am meisten ärgert sie sich über das Verhalten mancher Eltern: „Ich habe schon erlebt, dass sie ihre Kinder wegzerren und ihnen sagen, sie sollen nicht hinschauen oder fragen, was mit mir los ist. Ich finde es am schlimmsten, den Kindern so beizubringen, dass man nicht darüber reden dürfte. Ich kläre gerne jeden auf, der fragt und den es interessiert“, ist sie um einen unkomplizierten Umgang bemüht.
Entsprechend locker erzählt sie selbst: „Weil sich bei mir keine Muskelspannung aufbaut, verdreht sich leider meine Wirbelsäule immer mehr und nimmt den Organen den Platz. Das kann man nun nicht mehr ändern, mit zwölf Jahre hätte ich noch operativ eine Metallstange zur Stabilisierung einsetzen können. Darauf habe ich allerdings verzichtet, weil mein Lungenvolumen bereits so gering war, dass meine Überlebenschance bei ca. fünf Prozent gelegen hätte. Da bleib ich lieber schief. Passt eh besser zu meinen schrägen Ideen.“
Passende Wohnung fehlt noch
Eine von diesen könnte nun ihr Schweden-Ticket lösen. Nur eine passende Wohnung muss noch gefunden werden: „Daran könnte der Aufenthalt noch scheitern. Wir benötigen eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern und einem Wohn- und Essraum. Wer arbeitet, schläft bei mir, wer frei hat, kann sich im separaten Raum aufhalten und sich auch mal zurückziehen.“
Sind diese Parameter erfüllt, kümmert sich Michel um die Anreise: „Entweder geht es komplett mit dem Auto oder zum Teil mit der Fähre ab Travemünde nach Schweden. Fliegen geht leider nicht, da die Flugzeugsitze für mich nicht geeignet sind. In der ‚First Class‘ könnte ich zwar liegen, aber wer soll das bezahlen können?“, fragt sie ungläubig.
Ihre Leidenschaft für das Königreich der östlichen Skandinavischen Halbinsel flammte zunächst durch Freunde und Bekannte auf. Im August 2015 überzeugte sich die Studentin selbst und beschloss, nicht nur zu urlauben, sondern auch in Schweden zu studieren. Verständigungsprobleme wird sie nicht haben. Seit zwei Jahren belegt sie einen Sprachkurs und findet: „Wer fließend Deutsch und halbwegs Englisch kann, der hat auch mit Schwedisch keine Probleme.“
Einzug am 1. August geplant
Nun könnte es ganz schnell gehen: Die Assistenten sind bereit, Gelder bewilligt und ein Studienplatz am kulturwissenschaftlichen Institut von „Göteborgs universitet“ vorhanden. Findet sich nun noch eine Wohnung, sieht sich Michel ab dem 1. August in Schweden: „Ich möchte gern vor Semesterbeginn einziehen und alles Notwendige mit meinem Team organisieren.“ Vermissen wird sie „natürlich Freunde und Familie. Darüber hinaus aber hoffentlich nicht so viel Alltägliches. Wir werden schon Spaß haben.“ Bald schon heißt es dann hoffentlich nicht mehr „Hallo, ich heiße Vici“ sondern „Hej, jag heter Vici!“
Trevlig resa! (Gute Reise).